Christiane Woopen: Verlässliche Daten für eine bessere Medizin

Elektronische Patientenakten, Diagnostik mit dem Smartphone oder eine digitale Sprechstunde ohne lästige Wartezeiten – die Möglichkeiten, die Digitalisierung und ‚Big Data‘ in der Medizin bieten, sind enorm. Medizinethikerin und Professorin Christiane Woopen im Gespräch über die Digitalisierung des Gesundheitswesens Von Andreas Kirchner, Jürgen Rees und Jan Voelkel

Professorin Dr. Christiane Woopen, Medizinethikerin und geschäftsführende Direktorin von ceres, dem Cologne Center for Ethics, Rights, Economics, and Social Sciences of Health, ist ebenfalls sicher, dass die Möglichkeiten, die Digitalisierung und ‚Big Data‘ in der Medizin bieten, enorm sind. Gleichzeitig sind die Datenmenge und -vielfalt, die komplexen Programme zur Datenanalyse und die Qualitätssicherung eine große Herausforderung.

Frau Professorin Woopen, wenn es um die Digitalisierung in der Medizin geht, fällt unweigerlich das Schlagwort ‚Big Data‘. Welche Chancen bietet Big Data für die Medizin von morgen?

Big Data bedeutet in der Medizin, dass wir große Mengen gesundheitsrelevanter Daten aus verschiedenen Quellen zusammenführen. Die große Chance besteht dabei in einer ganzheitlicheren Betrachtung des Menschen. Denn der Mensch scheint doch etwas Größeres zu sein als das, was eine einzelne Disziplin beschreiben kann. Er ist aber auch mehr als seine Daten. Ich glaube nicht, dass man mit Big Data den Menschen endgültig verstehen wird, aber sicher bekommen wir in der Medizin neue Aufschlüsse zu bislang unbekannten Zusammenhängen. Der Internationale Bioethik-Ausschuss der UNESCO hat soeben einen Bericht über Big Data and Health veröffentlicht. Dort werden auf wenigen Seiten die wesentlichen Hoffnungen, aber auch Herausforderungen dargestellt und wichtige Empfehlungen gegeben.

Woran ließe sich dies verdeutlichen?

Wenn man etwa eine Genveränderung findet, die mit einer bestimmten Krankheit korreliert, bedeutet das noch nicht zwangsläufig, dass dieses Gen die Krankheit auch verursacht. Möglicherweise hat die Genveränderung ganz andere Ursachen, etwa in bestimmten Umweltfaktoren. Dafür muss man Daten außerhalb der Genetik einbeziehen. Big Data könnte uns dabei helfen, ein Netzwerkverständnis der Funktionen des menschlichen Körpers weiterzuentwickeln. Man bekäme ganz andere Ansatzpunkte für Therapien, anstatt sich auf die genetische Ebene zu fokussieren.

Ist also eine Verbindung von verschiedenen Datensätzen und Disziplinen schon in der medizinischen Forschung sinnvoll?

Wo man heute noch weitgehend etwa zwischen biologischer, soziologischer und ethischer Forschung unterscheidet, könnten verschiedene disziplinäre Sichtweisen zukünftig von vornherein viel enger zusammengeführt werden. Das würde die Methoden bereichern und die Datenintegration erleichtern.

Daten sind heute in vielen Gebieten eine wertvolle Ressource. Sehen Sie neben neuen Ansätzen für die Forschung auch Potenziale für eine Verbesserung des Gesundheitssystems?

Big Data und gute Algorithmen können uns helfen, ein lernendes Gesundheitssystem zu etablieren. Aktuell gehen täglich Millionen von Daten aus der Gesundheitsversorgung verloren. Ein Beispiel: Ein Medikament wird in klinischen Studien unter standardisierten Bedingungen getestet. Im Alltag stellt sich dann vielleicht erst nach Jahren heraus, dass dieses Medikament zwar die Symptome lindert, die Patienten und Patientinnen aber früher sterben. Welche Neben- und Wechselwirkungen Medikamente haben, findet man letztlich nur heraus, wenn man Daten systematisch unter Alltagsbedingungen erhebt, aufbereitet und auswertet.

Dabei geht es allerdings um sehr sensible Daten. Welche rechtlichen und ethischen Voraussetzungen müssen geschaffen werden, damit ein lernendes Gesundheitssystem funktionieren kann?

Ein lernendes Gesundheitssystem kann natürlich nur dann funktionieren, wenn es Regulierungen auf unterschiedlichen Ebenen gibt. Wichtig ist dabei, dass die Menschen darauf vertrauen können, dass mit ihren Daten kein Missbrauch getrieben wird. Wir haben bei ceres gerade das Forschungsprojekt „Digitalisierung für ein Lernendes Gesundheitssystem“ gestartet, in dem wir ein Mehrebenen-Modell einer Ethical Governance entwickeln wollen, das Politik und Praxis bei der Einführung eines lernenden Gesundheitssystems unterstützen soll.

Ein großes Problemfeld in diesem Zusammenhang ist der Datenschutz. Man denke nur an die zahlreichen Gesundheitsapps, bei denen sich doch niemand tatsächlich die Mühe macht, sich die Datenschutzbestimmungen durchzulesen.

Das stimmt leider. Als Nutzer möchte ich wissen, wo meine Daten gespeichert werden, an wen und zu welchem Zweck sie weitergegeben werden. Und das, ohne vorher seitenlang schwer verständliche, juristische Texte lesen zu müssen. Da besteht dringend Nachholbedarf. Im Projekt „Selbstbestimmtes Einverständnis bei Gesundheits-Apps“ beschäftigen wir uns bei ceres daher damit, wie man die Einwilligung zur App- und Datennutzung so gestalten kann, dass die Datenschutzbestimmungen eben nicht einfach akzeptiert und weggeklickt werden. Die besonders relevanten Fragen zur Datennutzung sollten auf einen Blick zu erkennen sein. Nutzer und Nutzerinnen sollten auch ohne großen Aufwand die Möglichkeit haben, die Weitergabe der Daten zu untersagen. Wünschenswert wäre der Weg, dass die Grundeinstellung einen maximalen Datenschutz vorgibt, und die Freigabe zur Datenweitergabe jeweils aktiv angeklickt werden muss. Zudem müssen ein unautorisierter Zugang zu den Daten und ihre nicht autorisierte Verwendung hart bestraft werden.

Die medizinischen Daten könnten ja auch von Ärztinnen und Ärzten genutzt werden, etwa in einer digitalen Gesundheitsakte. Die e-Akte wird immer mal wieder diskutiert, aber aus Datenschutzgründen natürlich mit Skepsis gesehen. Würden Sie deren Einführung befürworten?

Ja, unbedingt. Ich begleite ja beratend die Entwicklung der digitalen Gesundheitsakte der Techniker Krankenkasse aus ethischer Perspektive. Dabei kommt es mir darauf an, dass die Patientin und der Patient im Mittelpunkt stehen. Wir haben bei ceres vor einiger Zeit zum Beispiel ein Konzept digitaler Selbstbestimmung mit sieben Komponenten entwickelt: Kompetenz, Informiertheit, Werte, Wahlmöglichkeit, Freiwilligkeit, Willensbildung und Handlung. Für mich ist dieses Konzept wichtig, um prüfen zu können, ob die Gesundheitsakte die Selbstbestimmung der Patientinnen und Patienten auch tatsächlich unterstützt.

Welche Vorteile haben denn die Nutzer und Nutzerinnen von der digitalen Gesundheitsakte?

Die Akte kann eine wichtige Informationsquelle sein und die Gesundheitskompetenz unterstützen. Man hat unmittelbaren Zugriff auf die eigenen Daten, kann sie in ihrem Zusammenhang verstehen und auch im Behandlungsverlauf selbst verwalten. Wenn man zum Beispiel zu einem neuen Arzt gehen möchte, muss man nicht erst eine Reihe früherer Ärzte kontaktieren und Kopien beantragen. Ich habe neulich eine Patientin gesprochen, die an einer Form der Glasknochenkrankheit, also sehr leicht brechenden Knochen, leidet. Sie darf nicht schwer heben, ihre gesammelten Papierakten wiegen aber inzwischen 16 Kilogramm! Sie kann diese Infos alle auf ihrem Smartphone haben, weil sie eine Akte entwickelt hat, die webbasiert ist. Sie selbst und die jeweiligen Ärztinnen und Ärzte können sich damit viel schneller einen Überblick verschaffen.

Ließe sich vielleicht sogar ein Gang zum Arzt oder zur Ärztin sparen, weil der Patientenkontakt digitalisiert wird?

Gerade in ländlichen Gegenden spricht meiner Meinung viel dafür, dass man sich – anstatt zur Praxis zu fahren und sich dort lange ins Wartezimmer zu setzen – über eine geschützte Internetverbindung per Videokonferenz austauschen kann. Außerdem werden Patienten und Patientinnen zukünftig sicher auch viele Daten generieren, die sie an den Arzt oder die Ärztin übertragen können, um telemedizinisch individuell betreut zu werden. Ein Beispiel sind Blutdruckerhebungen zur Vermeidung von Spitzenwerten, die die Gefahr für einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall erhöhen würden. Das erleichtert also nicht nur den Fachkräften die Arbeit, sondern kommt auch Patienten und Patientinnen zugute.

Sind diese Daten denn überhaupt verlässlich? Schließlich werden sie dann von medizinischen Laien erhoben.

Das kommt vor allem auf die Instrumente an. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass der größte Teil der sogenannten Gesundheitsapps, die aktuell auf dem Markt sind, nicht qualitätsgestützt ist. Nur wenige Apps sind in Deutschland nach dem Medizinprodukte-Gesetz zugelassen. In der Qualitätskontrolle müssen wir noch große Fortschritte machen, damit transparent wird, um welche Qualität es sich bei diesen Apps handelt. Eine weitere Herausforderung: Es werden inzwischen Geräte entwickelt, mit denen Nutzerinnen und Nutzer selbst fünf Vitalparameter erfassen und mehr als zehn Krankheiten, etwa eine Schilddrüsenfunktionsstörung oder ein Melanom, diagnostizieren können – und das auf einem qualitativen Niveau, das einer Gruppe von angesehenen Fachärzten entspricht. Es handelt sich dabei nicht um irgendwelche Paradiesprojekte, sondern es ist tatsächlich beabsichtigt, sie in absehbarer Zeit in den USA offiziell zuzulassen.

CHRISTIANE WOOPEN ist Professorin für Ethik und Theorie der Medizin an der Universität zu Köln und geschäftsführende Direktorin von ceres, dem Cologne Center for Ethics, Rights, Economics, and Social Sciences of Health. An der Medizinischen Fakultät leitet sie die Forschungsstelle Ethik und ist Prodekanin für Akademische Entwicklung und Gender. Neben zahlreichen wissenschaftlichen Beiräten ist Christiane Woopen Mitglied im International Bioethics Committee der UNESCO sowie seit April 2017 Vorsitzende der European Group on Ethics in Science and New Technologies, die die EU-Kommission berät.

Big Data and Health

Report of the IBC on Big Data and Health: http://unesdoc.unesco.org/images/0024/002487/248724E.pdf

Ethical Governance

Ethical Governance-Ansätze zeichnen sich dadurch aus, dass sie über die bloße Implementierung von Richtlinien und Regularien hinausgehen. Vielmehr geht es um die normative Ausrichtung und angemessen flexible Selbstregulierung anhand klar definierter Ziele und Prinzipien, wobei die Verantwortungsübernahme für die Umsetzung von den Akteuren in besonderer Weise durch Eigenmotivation und einen bottom up-Approach geprägt ist.