Führungskräfte im Dilemma

Der einfühlsame Rambo als ideale Führungskraft?

Haben Sie sich auch schon einmal über Stellenanzeigen für Führungskräfte gewundert?
Da werden eierlegende Wollmilchschweine gesucht, kreativ, gewissenhaft, führungsstark und teamfähig, einfühlsam und durchsetzungsfähig, ergebnisorientiert und nachdenklich lauten die Anforderungsprofile.

„Ja, was denn nun?“, wird sich der ein oder andere fragen. Einfühlsam oder durchsetzungsfähig?

Führungskräfte müssen Widersprüche leben können

Fakt ist, dass Führungskräfte oft widersprüchlichen Anforderungen genüge tun müssen. Die Ziele des Unternehmens und die daraus resultierenden erforderlichen Handlungen schließen sich oft gegenseitig aus. Da werden Flexibilität, Kreativität und Innovation gefordert – wird sie dann geliefert, kommt die Retourkutsche – wo bleibt denn die Prozessoptimierung, die Stabilität und Regeltreue, die Konformität?

Das eine tun, ohne das andere zu lassen?

Für Führungskräfte mit schizophrener Neigung sicherlich kein Problem. Aber was ist mit den „Normalen“? Wie Neuberger schon 2002 festhält, befinden sich Führungskräfte oft in einem Dilemma. Das Dilemma ist nicht an die Person als Führungskraft geknüpft, sondern an die unterschiedlichen Erwartungen an die Führungsrolle. Vorgesetzte, Shareholder und Mitarbeiter erwarten, dass eine Führungskraft fast alles kann – das Anliegen der Abteilung durchsetzen, auf jeden Mitarbeiter und seine Belange individuell eingehen, Empathie zeigen, aber gleichzeitig hart durchgreifen, neue Unternehmenswege beschreiten, ohne dabei die kostbare Stabilität im Unternehmen aus den Augen zu verlieren.

Balance von Stabilität und Dynamik

„Warum kann ich mich nicht einfach für eine der beiden Seiten entscheiden, möglichst auch meinen Neigungen und meiner Persönlichkeit entsprechend?“– diese Frage einer Führungskraft beschreibt deutlich das Dilemma, in dem sich viele Führungskräfte befinden.

Die Antwort ist ernüchternd, aber auch sehr einleuchtend. Zu viel Stabilisierung durch Führungskräfte führt mittelfristig zu Stagnation. Wenn alles seinen gewohnten Gang geht, hat es zwar den Vorteil, dass sich Mitarbeiter und Führungskraft sicher und geborgen fühlen, der Nachteil dieser schönen Welt liegt jedoch klar auf der Hand. Ein Übermaß an Stagnation macht ein Unternehmen starr, die Anpassungsfähigkeit an neue Gegebenheiten ist mangelhaft, was früher oder später im harten Wettbewerb zu massiven Problemen führt.

„Soll ich denn nun Vollgas geben und alte Strukturen einreißen?“, mag man sich angesichts der Stagnationsbedrohung fragen. Aber auch diese Handlungsmöglichkeit hat es in sich. Ein Übermaß an Dynamisierung führt in vielen Fällen zu Unsicherheit und Instabilität, eine Mischung die eine Organisation überfordern kann.
Wege aus dem Dilemma: Handlungsbalance in Permanenz

Einen Weg aus dem Dilemma bietet eine intensive und nachhaltige Beschäftigung mit den augenscheinlich unvereinbaren Polen Stabilität und Dynamik. Die Anforderung an die Führungskraft von heute lautet: Bewusste Handlungsbalance in Permanenz.

Bewusst bedeutet, die führungsrelevanten Spannungsfelder genau zu kennen und jederzeit für sich persönlich detailliert analysieren zu können; Handlungsbalance bedeutet, einen situativen Führungsstil zu pflegen, ohne dabei ein Übergewicht zu Stabilität oder Dynamik hin zu zeigen; Permanenz bedeutet, diese wertvolle Balance als einen immerwährenden Prozess und damit auch als eine ständig präsente Führungsaufgabe zu sehen.

Welches aber sind die Führungsdilemmata, denen Führungskräfte tagtäglich ausgesetzt sind, und wie kann eine aktive Beschäftigung damit aussehen?

Die 8 Balancefelder

Die Anforderungen an die moderne Führungskraft lassen sich in acht auf den ersten Blick widersprüchliche Begriffspaare fassen und benennen die Handlungsfelder, die Führungskräfte tagtäglich zu bewältigen haben (vgl. Grote/Kauffeld).

1. Tagesgeschäft vs Strategie
„Was haben Die sich denn da oben mal wieder ausgedacht? Hätten die uns Praktiker gefragt, dann hätten wir denen gleich sagen können, dass das nicht geht!“

Das Tagesgeschäft gehört zu den stabilisierenden Faktoren eines Unternehmens. Kundenprobleme werden gelöst, aktuelle Aufgaben bearbeitet, stabile Prozesse garantieren eine hohe Effektivität. Zur gleichen Zeit aber müssen neue Prozesse zur Lösung künftiger Probleme angestoßen und weiterverfolgt werden. Das bedeutet Risiko, und Risiko ist der erste Feind der Stabilität. Oft werden beide Bereiche in Unternehmen getrennt, was zu regelrechten „Kleinkriegen“ zwischen den operativen und strategischen Bereichen führen kann.

2. Selbermachen vs Delegieren
„Meine Mitarbeiter brauchen klare Anweisungen, Anleitungen und entscheiden tue ich. Delegieren bei Kleinigkeiten, ja, aber am Ende will ich die Kontrolle haben.“.
Diese Aussage einer Führungskraft ist häufig und wird oft auch von den Mitarbeitern gutgeheißen, macht es das Leben doch sehr bequem. Schlimm, finden Sie? Delegieren Sie selbst denn in ausreichendem Maße? Oder vielleicht sogar zu viel?

Gibt man auf einer bekannten Suchmaschine die beiden Schlüsselbegriffe Führung und Delegation ein, erscheinen alleine 353.000 Einträge. Selbermachen oder Nicht-Delegieren hingegen scheint verpönt und eine Führungsschwäche zu sein, es sei denn eine Aufgabe ist „Chefsache“.

Dabei gehört das Selbermachen zu der stabilisierenden Seite von Führung. Aufgaben und Themen sind bei der Führungskraft angesiedelt, die sich auch Entscheidungsbefugnisse vorbehält und somit eine sicherheitsstiftende Kontrolle über alle Projekte hat. Die Kehrseite der Medaille ist die mangelnde Dynamik. Mitarbeiter wollen eigne Projektverantwortung haben, im Sinne von Fordern und Fördern als auch im Sinne von Innovation, Zeitersparnis und besserer Ressourcennutzung ist Delegation der dynamisierende Faktor.

3. Nähe vs Distanz
Wer liebt nicht den kollegialen Chef, mit dem oder der man über alles sprechen kann, Privates austauscht, mit dem man einen ständigen persönlichen Kontakt hat?

Nähe stabilisiert. Bei zu viel Nähe allerdings verkommt Führung leicht zu einem „kollektiven Kuscheln“, was dazu führt dass sowohl positive als auch negative Kritik nicht mehr geäußert wird und die Führungsautorität verloren geht. Distanz hingegen ist der dynamisierende Faktor und motiviert durch klare Erwartungen und Kritik. Gerät die Balance zwischen beiden Polen aus den Fugen und Distanz dominiert, verliert die Führungskraft das Vertrauen der Mitarbeiter und damit auch die Basis für eine stabile Beziehung.

4. Team vs Individuum
Gleichbehandlung aller im Team ist eine der Hauptforderungen der Stabilität. Was jedoch passiert, wenn eine Führungskraft immer alle Teammitglieder gleich behandelt, auch wenn einige eine bessere Leistung bringen oder Ansätze für förderwürdige Eigenschaften und Fähigkeiten zu Tage treten?

Um ein Team dynamisch zu halten, sind Führungskräfte gefordert, die Einzelnen nach ihren Möglichkeiten, Potentialen und Fähigkeiten zu fördern, einzusetzen und auch separat anzuerkennen (zumindest soweit es den westlichen Kulturkreis betrifft). Führt dies allerdings zu einer Benachteiligung anderer Teammitglieder, gerät das Team schnell in kritisches Fahrwasser.

5. Reflexion vs Umsetzung
Veränderungen im Berufsumfeld sind zum konstanten Begleiter eines jeden arbeitnehmenden Menschen geworden. Führungskräfte stehen vor der Aufgabe, Risiken abzuwägen, Neuerungen auf Herz und Nieren zu prüfen und deren Folgen abzuschätzen.

 Zur gleichen Zeit aber müssen sie eine schnelle, unproblematische und funktionierende Umsetzung leisten. Sind beide Faktoren nicht in Balance, ist die Führungskraft samt Organisation entweder der „ewige Zweite“ auf dem Markt oder ein unverantwortlicher Glücksspieler, letzteres eine bittere Tatsache angesichts der Auslöser der Wirtschaftskrise.

6. Optimierung vs Innovation
Optimieren bedeutet das schrittweise Verbessern von Prozessen und Produkten. Die Stabilität liegt hier darin, dass es den Prozess oder das Produkt schon gibt. Gewinnt die Stabilität Überhand, besteht die Gefahr, dass endlos an Veraltetem herum optimiert wird, anstatt eine dynamische Variante in Form eines völlig neuen Prozesses oder Produkts ins Auge zu fassen.

 Aber auch hier ist Vorsicht geboten. Eine zu starke Konzentration auf neue zukunftsträchtige Veränderungen lässt bestehende Stärken und Potentiale leicht in den Hintergrund rücken.

7. Authentizität vs Repräsentation
Authentizität ist ein Thema, das im letzten Jahr durch viele Medien und Seminarräume gejagt wurde. Die ewige Frage – was ist Authentizität, und ist es gut, authentisch zu sein stehen hier im Vordergrund. Authentizität scheint das neue Führungszauberwort zu sein. Repräsentation hingegen wird oft abgelehnt als „eine Rolle spielen müssen“.

Fakt ist jedoch: beides gehört zum Repertoire einer guten Führungskraft. Authentizität wirkt bis zu einem gewissen Grade stabilisierend durch ihre Ehrlichkeit im direkten Kontakt mit der eigenen Abteilung/dem eigenen Team. Allerdings kann zu viel Authentizität zu großen Problemen in der Außenwirkung der Führungskraft und des Teams führen, etwa wenn abteilungseigene Probleme zu offen unternehmensweit thematisiert werden, andere Teams hingegen eher dynamisch agieren und ihre Leistungen als sehr positiv darstellen.

8. Autonomie vs Integration
Eine gute Führungskraft vermittelt einem Team Sicherheit, Identifikation und Motivation, indem sie die Einzigartigkeit des Teams hervorhebt. Bestenfalls bringt das Team Spitzenleistungen, wenn es schlecht läuft, isoliert sich das Team vom Rest des Unternehmens.

Integration in das Gesamtunternehmen bildet hier den dynamischen Faktor. Eine zu große Betonung der Gesamtintegration jedoch führt schnell zu Problemen, Demotivation, Ablehnung und empfundene Sinnlosigkeit machen sich breit, gut zu beobachten bei vielen M&A Projekten.

Dilemmata balancieren

Die wenigsten Führungskräfte können die Führungsdilemmata alleine ausbalancieren. Hier ist eine Unterstützung aus den Personalentwicklungsabteilungen der Unternehmen gefragt. Neben individualdiagnostischen Elementen, etwa das Balance Inventar der Führung BALI-F (vgl. Grote & Kauffeld) können folgende Instrumente zur Ausbalancierung eingesetzt werden:

– Einführende Seminare und weiterführende Workshops zum Thema Führungsdilemmata
– Regelmäßige Ist-Analyse-Workshops zur momentanen Balance der Führungsdilemmata
– außerordentliche Führungskreis-Workshops bei größeren Veränderungen im Unternehmen
– Individuelles Coaching
– Vorgesetztenbeurteilungen
– Führungsteamdiagnosen (Assessment, Förder-AC, 360 Grad Feedback)

Dr. Eva B. Müller
www.muellercommunications.de

Literatur:

Grote & Kauffeld 2007: Stabilisieren oder dynamisieren: Das Balance-Inventar der Führung. In: Erpenbeck, J. & Rosenstiel, L. (Hrsg.) Handbuch Kompetenzmessung , S.317 – 336

Fontin, M. 1997: Das Management von Dilemmata: Erschließung neuer strategischer und organisationaler Potentiale., S. 4

Neuberger, O. 2002: Führen und führen lassen.