Stressinterviews – Ressourcenkiller par excellence

Stressinterviews sollen der Beurteilung der Stressresistenz eines Bewerbers dienen. Was sie jedoch verursachen, sind Demotivation, Vertrauensverlust und Potentialvergeudung. Im Kampf um die hellsten Köpfe sind andere Techniken gefragt.

Stressinterviews  – Ressourcenkiller par excellence

Stressinterviews sollen der Beurteilung der Stressresistenz eines Bewerbers dienen. Was sie jedoch verursachen, sind Demotivation, Vertrauensverlust und Potentialvergeudung. Im Kampf um die hellsten Köpfe sind andere Techniken gefragt.

Eigentlich begann alles ganz harmlos. Silke Friedhelm fuhr nach München, um das letzte ihrer vier Vorstellungsgespräche zu absolvieren. Heute um 16:30 würde sie mit Askan Semmer sprechen, dem Geschäftsführer der deutschen Niederlassung eines internationalen Konzerns und ihr potentieller zukünftiger Vorgesetzter. Silke war in der Endrunde angekommen, mit drei weiteren Bewerbern ging es um die Stelle des Marketingleiters Europa.

Nach einer kurzen Begrüßung und etwas Smalltalk über die heftigen Schneefälle und das bevorstehende Weihnachtsfest passierte es. Askan Semmer fragte: „ Wie viele Gespräche haben Sie denn eigentlich schon geführt? Und mit wem?“

Silke traute ihren Ohren nicht. Konnte es sein dass sie gerade ein Einstellungsgespräch für eine hochdotierte Stelle mit ihrem zukünftigen Vorgesetzten führte, dieser aber keine blasse Ahnung davon hatte, wer sie war und mit wem sie schon gesprochen hatte?

„Nun, ich habe mit dem Leiter Personal gesprochen, mit dem internationalen Marketingleiter und mit dem internationalen Geschäftsführer“ gab Silke zurück.

 „Ah ja. Sagen Sie, können Sie eigentlich Englisch?“ Silke begann sich über ihren Interviewer zu ärgern. „Ja, das steht auch in meinen Unterlagen, zudem habe ich das Gespräch mit Ihren beiden Kollegen auf Englisch geführt – ich weiß dass ich mein Englisch verbessern muss und arbeite auch schon daran.“ Mit der nächsten Frage von Semmer schien sich das Gespräch in freundlichere Gewässer zu bewegen: „Was sind denn Ihre Hobbies?“ wollte er wissen. Silke entspannte sich und nannte ihre Hobbies, Reiten und Motoradfahren. Semmer reagierte sofort: „Und wie wollen Sie bei solchen Hobbies Ihren anspruchsvollen Job bei uns erfüllen?“

Nach einer kurzen Diskussion über die Gewichtung von Hobbies und Job folgte die nächste Frage. „Wie sind denn eigentlich Ihre Kontakte in der Marketingwelt? Nennen Sie mir mal ein paar Namen von Leuten die Sie kennen und die ich auch kenne, damit ich weiß dass Sie mir hier keinen Blödsinn erzählen. Und ich möchte noch wissen was Ihre Schwächen sind.“ Silke Friedhelms Antworten konnten Semmer nicht bremsen, es folgte Angriff auf Angriff: Sie habe etwas zu verbergen, sie terrorisiere doch sicherlich Ihr Team, Sie verhalte sich wie ein Azubi und nicht wie eine Führungskraft …

Das „Grillen“ der Bewerber

Was Silke Friedhelm in diesem Gespräch passierte, ist nicht selten und in einigen Unternehmen leider an der Tagesordnung. Wahrscheinlich war Askan Semmer weder schlecht vorbereitet, wie es den Anschein hatte, noch ein aggressiver Zeitgenosse. Ihm kam lediglich die Rolle des“ Grillmasters“ zu, verantwortlich für das „Grillen“ der Bewerber – eine Fragetechnik, die auch unter dem Begriff Stressinterview bekannt ist.

Stressinterviews sollen zeigen, wie Bewerber in stressreichen Situationen reagieren und kontern. Übliche Techniken des „Grillens“ sind negative Deutungen, das Unterstellen von negativen Eigenschaften und die Unterstellung von Unglaubwürdigkeit, vorgebracht in einem aggressiven bis latent beleidigenden Ton.

Zielführende Technik?

Inwieweit diese Technik zielführend ist, ist nicht bekannt. Fest stehen jedoch zwei Dinge, nämlich zum einen, dass solche Unternehmen einen äußerst schlechten ersten Eindruck von sich und den im Unternehmen vorherrschenden Werten vermitteln (und somit jegliche Anstrengungen im Bereich Employer Branding und Unternehmensphilosophie zunichtemachen), und zum anderen, dass der zukünftige Vorgesetzte oder der Personalchef wohl kaum jemals wieder das Vertrauen der interviewten Person wiedererlangen werden, was sich in Demotivation, Talentvergeudung und möglichem Mitarbeiterverlust niederschlägt und so letztendlich so das Unternehmen schädigt.

Meister im Stressinterview, Versager im Job

Als weiterer Punkt kommt hinzu, dass die im Stressinterview kreierte „Stresssituation“ völlig unrealistisch ist. Die angebliche Stressresistenz, die der Bewerber an den Tag legen soll, wird im Job in Fachsituationen gefordert und nicht auf einem Gebiet, auf dem sich ein Arbeitnehmer nur einige wenige Male in seinem Leben bewegt, nämlich in einem Bewerbungsgespräch. Was in Stressinterviews also wirklich getestet wird, ist die Geübtheit eines Bewerbers, sich in Vorstellungsgesprächen nicht durch Provokationen, Beleidigungen, Unterstellungen, grobe Unhöflichkeiten und Aggressivität aus der Ruhe bringen zu lassen. Ob diese Leistung allerdings auch nur in einer latent signifikanten Beziehung  zu einer späteren Arbeitsleistung unter Stress steht, ist doch stark zu bezweifeln, es sei denn es handelt sich um Berufsgruppen, die tagtäglich Beleidigungen und Unterstellungen ausgesetzt sind (wie etwa Polizisten).

Stressinterviews – Opfer und Täter?

Ruft man sich im Internet Artikel über Stressinterviews auf, finden sich unter Google allein um die 42.000 Einträge samt einer Reihe von Tipps für den Umgang mit besagter Gesprächstechnik, so etwa: Bleiben Sie immer sachlich, lassen Sie Ihren Gesprächspartner ausreden, fallen Sie ihm trotz aller Provokation nicht ins Wort, lassen Sie sich Zeit mit Ihren Antworten und überlegen Sie genau, versuchen Sie, eine gelassene, ruhige Körperhaltung zu bewahren, und so weiter. Sicherlich gut gemeint, ist diesen Tipps eines gemein: sie lassen den Bewerber in der Opferrolle verharren, als Teilnehmer eines Spiels, in dem der Bewerber unten und der Interviewer oben steht.

Das Spiel unterbrechen

Silke Friedrichs Fazit nach dem Gespräch war eindeutig. „Ich wollte ein Gespräch auf Augenhöhe führen und nicht wie ein Schulkind behandelt werden, das einen Fehler gemacht hat. Falls mir das noch einmal passiert, werde ich genau das im Gespräch sagen und es notfalls auch abbrechen. Ich erwarte mir Respekt von einem Gespräch und eine gute Gesprächsführung, nicht Unterstellungen und Beleidigungen. Man sollte doch annehmen, dass ein Unternehmen an meinen Stärken interessiert ist und nicht an meinen Schwächen. Mitspielen wie dieses Mal werde ich auf keinen Fall mehr.“

Stärken oder Schwächen?

Silke Friedhelms Fazit ist nicht nur für jeden nachvollziehbar, sondern zeigt auch die Folgen für Unternehmen auf, die Stressinterviews einsetzen. Ein Unternehmen das nach einer kompetenten Fachkraft Ausschau hält, sollte den Fokus darauf legen, dass die Stärken des Unternehmens zu den Stärken des Bewerbers passen und dass der neue Mitarbeiter motiviert an seinen Job herangeht und sich mit dem Unternehmen identifizieren kann. Nach einem Stressinterview geht der Mitarbeiter jedoch mit einem ganz anderen Gefühl an den neuen Job heran. Ihm wurde mitgeteilt, dass man ihn oder sie trotz seiner/ihrer augenscheinlich stark ausgeprägten Defizite ausgewählt hat. Was passieren wird, ist relativ eindeutig. Der neue Mitarbeiter wird sich darauf konzentrieren, seine angeblichen Defizite zu minimieren oder zu vertuschen. Aber wollte das Unternehmen ihn nicht eigentlich wegen seiner Stärken einstellen?

Bei Silke Friedhelm könnte das so aussehen: Anstatt sich auf eine gute Präsentation zu konzentrieren, wird sie sich auf ihr Englisch fokussieren, statt unvoreingenommen mit Kollegen und Vorgesetzen zu interagieren, wird sie bemüht sein, sich so unauffällig wie möglich in die Konzernstruktur zu integrieren, oder anders formuliert: hier wird in großem Maße Ressourcenverschwendung praktiziert, von oben angeordnet und aufs peinlichste nachverfolgt.

Stärkenbasierte Interviews

Die weitaus kostengünstigere und ressourcenerhaltende Interviewmethode ist ein stärkenbasiertes Interview. Voraussetzung dafür ist eine genaue Kenntnis der Stärken, die eine zu besetzende Position erfordert, gepaart mit einer positiven und vertrauensfördernden Fragetechnik, die es dem Bewerber erlaubt, über seine Stärken zu sprechen und diese auch später auch gewinnbringend einzusetzen. Das bedeutet wiederum eine Ausbildung von HR Fachleuten und Führungskräften, die nicht nur lernen müssen, Tools wie Stärkenanalysen sinnvoll und professionell einzusetzen, sondern diese auch intelligent zu interpretieren und in die tägliche Führung zu integrieren. Diese Aufgabe kann nicht mit einem Tagesseminar zu Interviewtechnik gelöst werden, sondern erfordert die professionelle und allumfassende Integration eines stärkenorientierten Ansatzes im Unternehmen, was wiederum zeitaufwändig ist.

Zeit ist Mangelware, das wissen wir alle, nur: Im Zuge einer alternden arbeitenden Bevölkerung und einer Verknappung von fachlich exzellenten Arbeitskräften ist es eine Frage der Zeit, wie lange sich Unternehmen eigentümliche Arten der Gesprächsführung wie Stressinterviews noch erlauben können. Viel Zeit zur Umstellung auf stärkenbasierte Techniken bleibt nicht.

Silke Friedhelm bekam zwei Tage nach dem Gespräch die Nachricht, dass sie den Job nicht bekommen wird. Ihr Kommentar: „Wer weiß wofür das gut war. Da wäre ich auf Dauer nicht glücklich geworden.“